Die autotelischen Gewalttaten der IS

18. September 2014

Die Welt schaut mit Bestürzung und Abscheu auf die Gewaltakte der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) im Irak und in Syrien. Die Liste der Verstöße gegen die Menschenrechte, die mit dem Vorrücken der IS-Kämpfer zur Errichtung eines Kalifats in Verbindung gebracht werden, ist lang. Sie reicht von massenhafter Vertreibung, Folter und Hinrichtung bis hin zur Zwangskonversion zum Islam.

Mit dem obszönen Zurschaustellen der Enthauptung hilfloser ziviler Geiseln im Internet scheint nun eine weitere Dimension brutaler Gewalt erreicht worden zu sein, die das Vorgehen der IS-Kämpfer in einem punktuellen Akt unfassbar verdichtet. Es stellt sich die Frage, wie solche Handlungen erklärbar sind? Wie kann es sein, dass Menschen im Namen ihrer religiösen Anschauung solche Taten begehen?

Eine nüchterne Antwort lässt sich aus der vielgelobten Studie des Hamburger Soziologen Jan Philipp Reemtsma über Gewalt und Vertrauen in der Moderne gewinnen. In einer soziohistorischen Analyse zeigt Reemtsma, dass Menschen immer wieder Gewaltexzesse und Gräueltaten praktiziert haben – und dies nicht etwa, weil es die Machenschaften weniger, verrückter Sadisten waren, sondern weil Menschen schlichtweg dazu in der Lage sind. Dem gegenüber zeichne sich die moderne Kultur dadurch aus, dass Gewalt nur dann legitimiert werden könne, wenn sie vor schlimmerer Gewalt schützt. Reemtsma spricht hierbei von der „Selbst-Imagination der Moderne“: „Sie ist eine Kultur, für die Gewalt nicht selbstverständlich ist und die sie abzuschaffen sucht“.

Diese Selbst-Imagination sei derart perfektioniert worden, dass sie zur Ächtung einer bestimmten Form der körperbezogenen Gewalt führte. In einer Phänomenologie der Gewalt bezieht sich Reemtsma auf die sog. autotelische Gewalt, die ausschließlich darauf abzielt, den Körper willkürlich zu zerstören. Davon unterscheidet er zwei andere, körperbezogene Gewaltphänomene, bei der die Beeinträchtigung des Körpers „lediglich“ als Mittel zum Zweck dient: die lozierende (einen Körper wegschaffende) und raptive (einen Körper sexuell in Besitz nehmende) Gewalt.

Während die autotelische Gewalt in der „vormodernen“ Gesellschaft mannigfaltig praktiziert wurde – man denke an römische Gladiatorenkämpfe oder an öffentliche Hinrichtungen während der Französischen Revolution –, habe die moderne Gesellschaft den Umgang mit dieser Form der Gewalt verlernt. Sie werde entweder als Ausdruck des pathologisch Anormalen weginterpretiert oder ihr werde sekundär ein Zweck zugeschrieben, um sie auf die Ebene der „zweckrationalen“ (z.B. lozierenden) Gewalt zu bringen. Dabei seien Menschen stets zur autotelischen Gewalt verführbar, wenn man nur Areale schaffte, wo sie ausgeübt werden könne.

Angesichts dieser nüchternen Diagnose stellt Reemstma Forderungen an einen zukünftigen Umgang mit Gewalt auf: Da man Gewaltexzesse nicht verhindern könne, solle diese Illusion durch eine Kombination aus Angst und Selbstbewusstsein ersetzt werden. „Angst“ bedeutet für ihn die wachsame Vorsicht, dass man schon einmal gescheitert ist; und „Selbstbewusstsein“, dass die Einschränkungen der Gewalt durch Staaten und Institutionen der wohl bedeutsamste zivilisatorische Fortschritt der Menschheitsgeschichte gewesen ist, an dem man unbedingt festhalten müsse.

Roman Beck

 

Quellen: