Evangelii Gaudium

Eine Annäherung aus missionswissenschaftlicher und weltkirchlicher Perspektive: Die Bedeutung des Apostolischen Schreibens Evangelii Gaudium (EG) ist „programmatisch“ (EG, 25). Der Papst bittet alle katholischen Gemeinschaften darum, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Kirche vor Ort in einen „Zustand permanenter Mission“ (EG, 25) zu versetzen. Das missionswissenschaftliche Interesse ist geweckt, um sich mit den missionarischen Leitlinien von Evangelii Gaudium auseinanderzusetzen. Das Dokument will grundsätzliche Orientierung für eine neue Evangelisierung in der Welt von heute geben und behandelt dafür Substanz und Begründung der Mission, sowie mögliche Wege und Träger. Dafür ist es einerseits interessant, den theologischen Rahmen von Evangelii Gaudium auszuloten, in dem die Einzelthemen ihren Sinn gewinnen. Andererseits stellt sich die Frage nach der Missionskonzeption des Apostolischen Schreibens. 

Im Dokument zeigen sich zwar Parallelitäten mit Evangelii nuntiandi ab, dennoch akzentuiert Papst Franziskus Aspekte der Mission anders, die aufhorchen lassen. Er gliedert sein Schreiben in fünf Kapitel mit folgenden Schwerpunkten: Die missionarische Umgestaltung der Kirche in der Krise des gemeinschaftlichen Engagements, die kerygmatische Verkündigung des Evangeliums, deren soziale Dimension und das missionarische Wirken des Heiligen Geistes. „Die bedeutende praktische Auswirkung“ der ausgewählten Themen umreißt „einen bestimmten Stil der Evangelisierung“ (EG, 18). Dieser Stil soll von den Christen „in allem, was getan wird“ (EG, 18) übernommen werden – fordert Papst Franziskus.

®Jorge Gallegos Sánchez

©Jorge Gallegos Sánchez

Das Apostolische Schreiben genieß den Charakter einer Exhortatio apostolica, es stellt eine Aufforderung des Papstes an die katholischen Christen weltweit dar. Wie vor fast 40 Jahren zu einem ähnlichen Thema Evangelii nuntiandi in Anlehnung an eine Bischofssynode verfasst wurde, erntet nun Papst Franziskus mit seiner Exhortatio die Arbeit der 13. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode zur neuen Evangelisierung, die im Oktober 2012 in Rom stattfand (vgl. EG, 16). Ihre abschließenden Vorschläge (propositiones) greift der Papst auf. Darüber hinaus schöpft Franziskus aus den Missionsdokumenten Evangelii nuntiandi und Redemptoris missio, welche Lineamenta und Instrumentums laboris der Bischofssynode prägten. Der Heilige Vater entfaltet seine Missionstheologie auch in Anlehnung an die Dogmatik des II. Vatikanums. Explizit bezieht er sich auf lehramtliche Entscheidungen in Lumen Gentium, Gaudium et Spes und Dei Verbum. Desweiteren nimmt er an mehreren Stellen auf theologische Abhandlungen des Heiligen Thomas von Aquin und auf lerhamtlichen Schreiben Bezug: zum Beispiel auf Populorum Progressio, Solicitudo rei Socialis, Centesimus annus, Redemptores mater, Ecclesiam suam, Fides et Ratio, Deus Caritas est und Caritas in veritate. Papst Franziskus bringt außerdem die weltkirchliche Stimme zur Geltung. Die Erfahrung und Reflexion aus den Ortskirchen kommen durch zahlreiche Dokumenten, die er zitiert, zum Ausdruck. Dazu zählen das Dokument von Aparecida, die Apostolischen Schreiben Ecclesia in Asia, Ecclesia in Amerika, Ecclesia in Afrika, Ecclesia in Oceania, Ecclesia in Medio Oriente, mehrere Pastoralbriefe aus unterschiedlicher Bischofskonferenzen (Frankreich, Brasilien, Indien, USA, Kongo Philippinen) und nicht zuletzt das altmexikanische Nahua-Dokument Nican Mopohua. Evangelii Gaudium spiegelt insofern das weltkirchliche Miteinander wieder, welches den Verlauf und das Ergebnis der 13. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode bestimmte. 

Als theologischer Rahmen von Evangelii Gaudium können folgende Leitlinien ausgemacht werden: Alles wird unter einen missionarischen Gesichtspunkt gestellt (vgl. EG, 34).  Hierin besteht der vielleicht wichtigste Bezugspunkt zum Dokument von Aparecida (dafür sprechen nicht nur die Fußnote in EG, 25; sondern auch die Anknüpfungen zum lateinamerikanischen Dokument in EG, 10; 15; 83; 122; 124 und EG, 181). Wegen der missionarischen Ausrichtung betont Franziskus den Kern des Evangeliums: die „heilbringende Liebe Gottes“ (EG, 36). Dieser Kern darf nicht neben anderen Themen als zweitrangig erscheinen, oder verwechselt werden, etwa mit Fragen der Morallehre, „die für sich allein nicht das Eigentliche der Botschaft Jesu Christi ausdrücken“ (EG, 34; vgl. auch EG, 184). In der „Hierarchie der Wahrheiten“ stellt diese Liebe die Quelle dar, aus der die missionarischen Taten und Lehren der Christen hervorgehen. Hier ist das, worauf es aus Sicht des Papstes ankommt, „vor allem «den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist»“ (EG, 37). Franziskus entwickelt daraus einen missionstheologischen Rahmen, in dem eine Theologie der Barmherzigkeit missionarische Orientierung ermöglicht: Weil das Erbarmen als Wesensmerkmal Gottes gilt, sind die Werke der Nächstenliebe „der vollkommenste äußere Ausdruck der inneren Gnade des Heiligen Geistes“ (EG, 37). Als praktische Konsequenz dieser Theologie stellt Franziskus die Folgen für das missionarische Wirken der Kirche in den Mittelpunkt. Sie ergeben sich aus der Menschwerdung Gottes: „Das Wort Gottes lehrt uns, dass sich im Mitmenschen die kontinuierliche Fortführung der Inkarnation für jeden von uns findet. […] Aus diesem Grund »ist auch der Dienst der Liebe ein konstitutives Element der kirchlichen Sendung und unverzichtbarer Ausdruck ihres eigenen Wesens«“(EG, 179). An dieser Stelle bezieht sich Franziskus auf das Motu propio Intima Ecclesia natura aus dem Jahr 2012, was den lehrmäßigen Charakter der Aussage verdeutlicht. 

In diesem von Franziskus aufgeschlagenen theologischen Bogen kann nun die Missionskonzeption des Apostolischen Schreibens skizziert werden. Folgende Ansätze wirken in der Gesamtbetrachtung des Dokumentes wie dessen Missions-Grammatik: 

1) „Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottes in der Welt gegenwärtig machen“ (EG, 176) 

2)„Die Kirche verkündet das Evangelium vom Frieden“ (EG, 238),

3) da der Heilige Geist „die Seele der missionarischen Kirche [ist]“ (EG, 261), in allen Menschen wirkt (EG, 119, 171) und „in alle sozialen Bindungen einzudringen sucht“ (EG, 178), ist Evangelisierung „letztendlich eine Evangelisierung mit dem Heiligen Geist“(EG, 261). Daher geht die Mission vom „Herzen des Volkes“ (EG, 273) aus. Das Herz ist ihr Ausgangs-und Bezugspunkt. Denn „das Prinzip des Primats der Gnade“ (EG, 112) muss dementsprechend in den Mittelpunkt der Missionsüberlegungen gestellt werden; und

4) die Armut in der „Sonderoption für die Armen“ ist notwendige Voraussetzung für die Verkündigung (EG, 199). 

Auf dem Hintergrund dieser Ansätze lassen sich einzelne theologische Ausführungen verstehen: Die Kirche ist Gottesvolk (vgl. EG, 111; 114; 268) und „durch ihr evangelisierendes Tun arbeitet sie mit als Werkzeug der göttlichen Gnade“ (EG, 112). Das Gottesvolk ist zunächst Empfänger der göttlichen Liebe. Diese Liebeserfahrung ist für Franziskus „der erste Beweggrund, das Evangelium zu verkünden“ (EG, 264). Daher gilt es für den Heiligen Vater, das Evangelium „mit dem Herzen“ (EG, 264) zu lesen. Er betont, bei der Verkündigung geht es nicht um die Vermittlung von „abstrakten Wahrheiten oder kalte[n] Sylogismen“(EG, 142), sondern um das Eintreten in jene „Kommunikation zwischen den Herzen“ (EG, 142; 121; 272). In diesem Sinne unterstreicht Franziskus die Herausforderung einer inkulturierenden Predigt: „Der Prediger hat die sehr schöne und schwierige Aufgabe, die Herzen, die sich lieben zu vereinen: das des Herrn und die seines Volkes“ (EG, 143). Dieser Dialog gewinnt deswegen einen „sakramentalen Charakter“ (EG, 142). 

In diesem missionarischen Sinne entfaltet Evangelii Gaudium seine sozialen Ausführungen: Wenn man die soziale Dimension der Evangelisierung als zweitrangig betrachtet, verstümmelt man den Evangelisierungsauftrag (vgl. EG, 176). Die Theologie vom Reich Gottes fundiert dieses Missionsverständnisses (vgl. EG, 176-181). Wörtlich heißt es: „Einen himmlischen Vater zu bekennen, der jeden einzelnen Menschen unendlich liebt, schließt die Entdeckung ein, dass er »ihm dadurch unendliche Würde verleiht«. Bekennen, dass der Sohn Gottes unser menschliches Fleisch angenommen hat, bedeutet, dass jeder Mensch bis zum Herzen Gottes erhört worden ist.“(EG, 178). 

Die menschliche Würde wird von Franziskus nicht nur im ontologischen Sinne verstanden, sondern der Papst wird konkret: „Vom Kern des Evangeliums her erkennen wir die enge Verbindung zwischen Evangelisierung und menschlicher Förderung, die sich notwendig in allem missionarischen Handeln ausdrücken und entfalten muss“ (EG, 178). Daher „kann und darf [die Kirche] im Ringen um Gerechtigkeit […] nicht abseits bleiben «.“ (EG, 183). Religion darf aus Franziskus‘ Sicht nicht in das Innenleben der Menschen verbannt werden. Evangelii Gaudium verdeutlicht die wesentliche Verbindung zwischen Mission und Prophetie, vor allem hinsichtlich jener Krankheit der Gesellschaft, „die sie anfällig und unwürdig werden lässt“ (EG, 202). Fanziskus nennt sie beim Namen: „Die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel“ (EG, 202). Wenn eine Gesellschaftsstruktur dem Lebensstil der wohlhabenden Minderheiten dient, „während die anderen sich durchschlagen müssten, so gut wie es eben geht“ (EG, 218), dann dient sie einem falschen Frieden (vgl. EG, 218). „Die Würde des Menschen und das Gemeingut gelten mehr als das Wohlbefinden einiger, die nicht auf ihre Privilegien verzichten wollen.“ (EG, 218, vgl. dazu auch EG, 57), akzentuiert der Bischof von Rom. 

Diese sozialen Implikationen ergeben sich aus einer Theologie der Armut. Ob ihrer Zentralität im Denken Franziskus‘ muss sie in Betracht gezogen weden, um dem Missionskonzept des Dokumentes in seiner Tiefe nachzugehen. Zum einen gilt: „Im Herzen Gottes gibt es einen so bevorzugten Platz für die Armen, dass er selbst ‘arm wurde‘ [2, Kor 8,9]“ (EG, 197). Zum anderen folgt aus der Kontextualisierung der Geburt Jesu: „Diese göttliche Vorliebe hat Konsequenzen im Glaubensleben aller Christen, die ja dazu berufen sind, so gesinnt zu sein wie Jesus (vgl. Phil 2,5). Von ihr inspiriert, hat die Kirche eine Option für die Armen gefällt, die zu verstehen ist als »besonderer Vorrang in der Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt«“ (EG, 198). 

Diese Armutslehre Papst Franziskus‘ steht in Kontinuität mit dem Denken von Johannes XXIII., Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Deutliche Bezüge dafür finden sich in der Enzyklika Solicitudo rei socialis und in der Ansprache von Benedikt XVI. zur Eröffnung der Arbeiten der 5. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik. Der Vorgänger von Papst Franziskus unterstrich in seiner Eröffnungsansprache in Aparecida: „Diese Option, […] ist »im christologischen Glauben an jenen Gott implizit enthalten, der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich zu machen«“ (EG, 165). Auch Franziskus akzentuiert den armen Christus und folgert daraus: „eine arme Kirche für die Armen“ (EG, 198). Mit Nachdruck fährt er fort: Die Armen „haben uns vieles zu lehren. Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondern kennen außerdem dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen. Die neue Evangelisierung ist eine Einladung, die heilbringende Kraft ihrer Leben zu erkennen und sie in den Mittelpunkt des Weges der Kirche zu stellen.“ (EG, 198). 

Auf diesem Hintergrund gewinnen die Aussagen über die Vertiefung des Kerygmas (vgl. EG, 160-168) im dritten Teil des Apostolischen Schreibens eine besondere Bedeutung. Da Christus sich besonders in den Armen zeigt, er ihr Schicksal auf sich genommen hat, und diese von Franziskus als Evangelisierer der Kirche betrachtet werden, bedarf der „Weg der Schönheit“ (EG, 167), die so genannte via pulchritudinis, eine wesentliche Verbindung zur Armut. Außerdem rückt die Rolle des Heiligen Geistes ins Blickfeld. Der Heilige Geist, Protagonist der Inkulturation (EG, 122), setzt eine „aufmerksame Zuwendung“ (EG, 199) zu den Armen in Gang, um „Christus in ihnen zu entdecken“ (EG, 198). Evangelii Gaudium ist insofern ein Missionsdokument mit pneumatologischem Inhalt. Vom Wesen und Wirken des Heiligen Geistes her kann die missionarische Grammatik des Dokumentes und die Tiefe ihrer theologischen Architektur verstanden und ausgelegt werden. Dafür sprechen die Ausführungen über die dritte Person Gottes in EG 112, 117, 119, 122, 272 und 265.

Die Armen sollen sich in der Kirche aus Sicht des Papstes „zu Hause“ (EG, 199) fühlen. Schließlich fragt Franziskus mit den Worten Johannes Pauls II. alle Katholiken: „Wäre dieser Stil nicht die großartigste und wirkungsvollste Vorstellung der Frohen Botschaft vom Reich Gottes?“ In der „Sonderoption für die Armen“ erkennt Papst Franziskus die notwendige Voraussetzung um die Verkündigung verständlich zu machen (EG, 199). Daraus ergibt sich: „Von allen […] ist die geistliche Bekehrung, die intensive Gottes-und Nächstenliebe, der Eifer für Gerechtigkeit und Frieden, der evangeliumsgemäße Sinn für die Armen und die Armut gefordert.“ (EG, 201). Damit betont der Heilige Vater eine Anweisung der Kongregation für die Glaubenslehre aus der Instruktion Libertatis nuntius (Nr. 908) aus dem Jahr 1984. 

Was Papst Franziskus von den Katholiken fordert, ist er bereit „selbst zu leben“ (EG, 32). Das zeigt sich hinsichtlich der Evangelisierung auch im Aufbau und in der einfachen Sprache des Apostolischen Schreibens selbst. Das Incipit Evangelii Gaudium ist mit Bedacht gewählt und durchzieht das gesamte Dokument. Der Duktus erinnert an eine Predigt, nah am Leben der Menschen. Zu Beginn ruft er vor jeder Veränderung im Äußeren und vor jeder Evangeliserung anderer zur Umkehr eines jeden Lesers und zur Bereitschaft der eigenen Neuevangelisierung auf (vgl. EG, 3). Der Notwendigkeit der Kirche „ständig evangelisiert zu werden“ (EG, 164) und jenem „Verlangen nach dem Unendlichen, das es in jedem Menschen gibt“ (EG, 165), ist mit dem armen Lebensstil Jesu Christi und der Schönheit seinen Armen zu begegnen. Auf diesem Hintergrund gewinnt der Weg der Armut eine zentrale Bedeutung in der missionarischen Arbeit der Kirche. Sie soll die Armen zu Wort kommen lassen, auf sie hören und „die geheimnisvolle Weisheit [annehmen], die Gott uns durch sie mitteilt“ (EG, 198). 

Schließlich gilt für Franziskus, was die Synodenväter in ihrer Schlussbotschaft im Jahr 2012 mit Nachdruck betonten: „das erste Wort, die wahre Initiative, das wahre Tun [kommt] von Gott […], und nur indem wir uns in diese göttliche Initiative einfügen, nur indem wir diese göttliche Initiative erbitten, können auch wir – mit ihm und in ihm – zu Evangelisierern werden.“ (EG, 112). 

Von Jorge Gallegos Sánchez