Eine der größten Herausforderungen für Religionen und Kulturen in der globalisierten Moderne liegt heute in dem, was man ihre „identitäre Versuchung“ nennen könnte. Diese Versuchung ist durch den Willen zu homogenen und eindeutigen Identitäten, die Betonung kollektiver (kultureller, nationaler und religiöser) Zugehörigkeit gegenüber individuellen Sinn- und Lebensentwürfen sowie eine binäre Logik des entweder „drinnen“ oder „draußen”, „Wir“ oder die „Anderen“ gekennzeichnet. Häufig verbindet sie sich mit apokalyptisch geprägten Szenarien, in denen die Dringlichkeit heroischer Praxis angesichts des endzeitlichen Kampfes zwischen „Gut“ und „Böse“ betont wird. Die identitäre Versuchung zeigt sich heute in Religion, Politik und Kultur gleichermaßen. Sie bildet die gemeinsame Matrix von religiösen Fundamentalismen und rechtsextremen „Ethnopluralisten“.
Die letzten Präsidentschaftswahlen in den USA, der Erfolg rechtsextremer Parteien und Bewegungen und die islamistischen Terroranschläge der letzten Jahre veranschaulichen die Präsenz dieser Logik im „Westen“. Nativistische und religiös-fundamentalistische Bewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika sind Beispiele für identitäre Bewegungen in anderen Kontinenten und Kulturen. Die Allianzen zwischen religiösen und politischen Akteuren sind in den genannten Beispielen oft unübersehbar. Sie reichen von Formen der subtilen Unterstützung bis hin zur offenen Kooperation.

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Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz hat die zu Grunde liegende Dynamik als das Aufeinanderprallen zweier unterschiedlicher Kulturalisierungsregime beschrieben. Während eine globale Ober- und Mittelschicht von den Effekten der ökonomischen Globalisierung profitiere und sich aus den religiösen und kulturellen Versatzstücken ihre je individuellen Sinn- und Lebensentwürfe designe, gerate der abgehängte Rest der Welt immer stärker in die Defensive. Der realen oder gefühlten Ausbeutung durch eine ökonomische und politische Elite setze man dabei die Verteidigung kollektiver Kulturen entgegen. Dem dekadenten kapitalistischen Westen die moralisch überlegene Tradition, dem individualistischen Design das Gewachsene und „Echte“.
Das Gefühl der Marginalisierung hat dabei für weite Bevölkerungsgruppen einen realen Hintergrund. Trotz aller technologischer Innovation und programmatischer Reden von Nachhaltigkeit und „green economy“ ist die „imperiale Lebensweise“ der globalen Ober- und oberen Mittelschichten (Ulrich Brand/Markus Wissen) sowohl auf Grund ihres Ressourcenverbrauchs als auch auf Grund der ökologischen Folgen nur um den Preis der Exklusion und Marginalisierung weiter Bevölkerungsgruppen des Planeten aufrecht zu erhalten. Die Globalisierungsdynamiken der letzten Jahrzehnte haben tatsächlich zu einem beispiellosen Verlust an Sprachen, vernakulärern Kulturen und Wirtschaftsformen der Subsistenz geführt und de facto einen Großteil der Weltbevölkerung in Abhängigkeit eines globalen ökonomischen Systems geführt. Die liberalen Versprechen von Partizipation, Menschenrechten und Wohlstand geraten unter diesen Bedingungen für weite Bevölkerungsteile nicht immer zu Unrecht unter den Verdacht, bloße Maskerade eines rücksichtslosen (Neo-)Imperialismus zu sein.
Die Verteidigung kollektiver Identitäten ist in diesem Zusammenhang ein hochambivalenter Prozess, der sich je nach Region und Kontext unterschiedlich ausgestaltet. Sie reicht von utopischen Visionen, die darauf zielen, inmitten einer als rücksichtslos wahrgenommen globalen Ordnung Räume eines neuen, solidarischeren Miteinanders zu erobern oder zurückzugewinnen bis hin zu fundamentalistischen, nationalistischen oder faschistoiden Dynamiken. Allzuoft verschwimmen dabei die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen. Die angestrebte Befreiung kippt nicht selten in neue Exklusion und Marginalisierung. Die innere Pluralität des verteidigten „Wir“ wird in homogenisierenden Vorstellungen kollektiver Identität zum Verschwinden gebracht und erzeugt neuerliche Ausgrenzung oder Zwang zu Anpassung und Uniformierung. Emanzipation und neue Repression gehen oft Hand in Hand.
Was für politische, nationale und ethnische Identitäten gilt, gilt auch für Religionen, Theologien und Kirchen. Religion wird von verschiedensten Seiten – und heute auch in Europa wieder – als Instanz der Bewahrung und Verteidigung des vermeintlich „Eigenen“ gegen eine unübersichtlich, oft als seelen- und morallos wahrgenommene globalisierte Gesellschaft in Anspruch genommen. Vielfach wird sie dabei zum Abgrenzungsmarker von den Anderen, die als Fremde oder Feinde erscheinen.
Der Islamwissenschaftler Olivier Roy hat nachgezeichnet, wie gerade diejenigen religiösen Gruppierungen, die am radikalsten die Reinheit und Authentizität des „Eigenen“ gegen die dekadente Globalisierung verteidigen, paradoxerweise oft selbst in eine Weise der Selbstvermarktung verfallen, die der kapitalistischen Markenlogik nicht unähnlich ist. Über kulturelle Grenzen hinweg agierende islamistische Gruppierungen und pentekostale Kirchen neigen gleichermaßen zur Produktion einer globalen Einheitsreligion. Markante Slogans mit hohem Wiedererkennungswert, die man auch ohne Studium und Bildung versteht, erinnern an Werbejingles, die unabhängigen Keimzellen des Islamischen Staates mit dem einprägsamen schwarzen Banner als „Logo“ an das Merchandising von Unternehmen wie McDonalds. Wie der Inhalt einer Marke ist auch die Botschaft dieser Gruppen ohne große sprachliche Übersetzungs- und Inkulturationsleistungen, d.h. ohne kulturelle Vermittlung, transportierbar. Bild und Performanz der Überzeugtheit ersetzen Diskurs, Interpretation und Hermeneutik. Geschaffen werden religiöse Marken, die – befreit von theologischem Gepäck – in den globalen Kommunikationsnetzwerken widerstandslos zu zirkulieren vermögen.
Die genannten Dynamiken stellen die Theologie und Kirche vor drängende Herausforderungen. Auf einer grundlegenden Ebene gilt es zu fragen: Was ist überhaupt Identität? Wie konstituiert sie sich und warum rückt sie heute in dieser prominenten Weise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit? Welche gesellschaftlichen Herausforderungen verbergen sich hinter den zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Identität? Welche sind die Bedingungen, unter denen in einer globalisierten Moderne (soziale, politische, religiöse) Identitäten gebildet und verhandelt werden? Wie sind Identitätsbildungsprozesse in koloniale, post- und neokoloniale Zusammenhänge eingeflochten? Wie hängen dabei globale Dynamiken und die Herausforderungen eines jeweils spezifischen Kontextes zusammen? Wie verbinden sich die Fragen nach Identität und Macht?

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Aus einer expliziter theologischen Perspektive sind insbesondere die folgenden Fragen von Relevanz: Auf welche theologischen Motive wird im globalen Ringen um Identitäten Bezug genommen? Was heißt und wie bildet sich eine „christliche Identität“? Wo liegen Ansatzpunkte für eine identitäre Interpretation des Christentums innerhalb der christlichen Tradition und wie lässt sich diesen begegnen? Was folgt aus den eben genannten Punkten für die Praxis der Christinnen und Christen sowie der Kirchen und Religionsgemeinschaften? Wo sind die Orte, an denen man sich den genannten Fragen zu stellen hat? Wie lässt sich christliche Gemeinschaft auf eine Weise leben, die in authentischer Weise Zeugnis von der sie tragenden Hoffnung gibt, ohne dabei in eine identitäre Abgrenzungs- und Profilierungslogik zu verfallen? Was bedeuten die Tendenzen zu identitären Gemeinschaftsformen in Politik und Religion für den interreligiösen und interkulturellen Dialog? Wie lässt sich theologisch und kirchlich den hinter diesen Tendenzen verborgenen Ängsten begegnen?
Von 25. bis zum 28. Oktober findet am Center for Liberation Theologies der KU Leuven ein internationaler und interdisziplinärer Workshop statt, der sich eben diesen Fragen widmen wird. Unter dem Titel „Die identitäre Versuchung. Identitätsverhandlungen zwischen Emanzipation und Herrschaft“ werden rund 40 Wissenschaftler/innen und Praktiker/innen unterschiedlicher Kontexte und Disziplinen ihre Thesen zum Thema vorstellen.
Interessierte an der Thematik sind herzlich eingeladen, an der Veranstaltung teilzunehmen. Die Vorträge werden in deutscher und englischer Sprache gehalten. Die Tagungsgebühr beträgt 40€. Das Programm und nähere Informationen sind hier zu finden.
Anmeldungen sind möglich über anthony [dot] atansi [at] kuleuven [dot] be
Sebastian Pittl
Quellen:
Ulrich Brand/Markus Wissen, Die imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München 2017.
Andreas Reckwitz, Zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus. Die Spätmoderne im Widerstreit zweier Kulturalisierungsregime, 16.01.2017.
Olivier Roy, Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen, Bonn 2011.