Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Reinhard Marx gab kürzlich ein bemerkenswertes Interview in der katholischen Wochenzeitschrift America. Marx hatte die Vereinigten Staaten Mitte Januar besucht, um im Rahmen der jährlich stattfindenden Roger W. Heyns Lecture als erster Kardinal an der renommierten kalifornischen Standford University einen öffentlichen Vortrag zu halten. Nachdem er dort in seinem sozialethischen Referat über “The Contribution of Christian Values to the Common Good” die Möglichkeit genutzt hatte, um mit seinem US-amerikanischen Publikum einen Blick «beyond capitalism» zu wagen und das unter partizipatorischer Hinsicht gerechtere Modell einer Sozialen Marktwirtschaft zu befürworten, äußerte er sich im Interview mit dem Jesuitenmagazin zu aktuellen Herausforderungen der Kirche.
Marx beschreibt in seinen Ausführungen, wie er Papst Franziskus als authentische, besonnene und starke Person wahrnimmt, betont dabei aber, dass die katholische Kirche viel mehr sei als der Papst. Er schildert seinen Eindruck, dass sich die Kirche gegenwärtig auf einem neuen geistlichen Weg befinde, der weltweit viele Menschen, auch Nicht-Christen, religiös inspiriere. Zugleich betont er dabei aber, dass es bei dem «frischen Wind» nicht darum gehe, eine neue katholische Kirche zu schaffen, sondern das Evangelium zu verkünden. Insbesondere legt der Kardinal die Lektüre von Evangelii Gaudium nahe, worin der Geist greifbar werde, in welchem sich die Kirche erneuere: Evangelisieung als Nähe zu den Menschen, zu den Armen, zu den Sündern, als eine Kirche, die nicht narzistisch ist und sich nicht von Angst leiten lässt.
Als Jahrhundertaufgabe charakterisiert Marx die noch nicht eingeholte Forderung des 2. Vatikanums nach einer neuen Balance zwischen Zentrum und Ortskirchen. Bei aller Wertschätzung für das Papstamt, müsse der Versuchung des Zentralismus widerstanden werden, weil absehbar sei, dass die Weltkirche in einer globalisierten Welt so nicht funktioniere. Konkret nennt er die anstehende Kurienreform und die notwendige Weiterentwicklung des Verhältnisses zwischen Rom und den Bischofskonferenzen als offene Baustellen. Die Frage nach der Rolle der Bischofskonferenzen soll auch im Rahmen eines IWM-Studientages am 5. November 2015 in Sankt Georgen gemeinsam mit Kardinal Marx vertieft werden. (Nähere Informationen dazu folgen in der zweiten Jahreshälfte.)
Auch zu den bei der jüngsten Synode in Rom kontrovers diskutierten Fragen nach dem Umgang der Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen und Homosexuellen bezieht der Erzbischof von München-Freising in besagtem Interview Stellung. Unverständnis zeigt er für eine Haltung, die davon ausgeht, die Theologie habe all diese Fragen bereits hinreichend geklärt. Stattdessen sei es eine Frage des aggiornamento, die kirchliche Lehre an die Botschaft des Evangeliums anzupassen, so dass die Menschen sie heute verstünden. Nicht die Verteidigung der Wahrheit sei daher die vorrangige Aufgabe der Kirche. Vielmehr solle sie den Menschen dabei helfen, diese Wahrheit zu finden. Es gehe aus seiner Sicht nicht darum Wege zu finden, um Menschen auszuschließen, sondern darum sie in der Kirche willkommen zu heißen. Explizit verweist Marx auf das im Hinblick auf die Synodendebatte vor kurzem von der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebene Diskussionspapier.
Noch konkreter wird Kardinal Marx als er nach der Rolle von Frauen in der Kirche gefragt wird. Die Entklerikalisierung von Macht sei aus seiner Sicht sowohl in der römischen Kurie als auch in den Diözesen eine sehr wichtige Aufgabe. Es müsse theologisch und kirchenrechtlich genau geschaut werden, welche kirchlichen Aufgaben tatsächlich nur von Priestern ausgefüllt werden können. Alle anderen sollten weitmöglichst auch für Laien offenstehen, insbesondere für Frauen. In dem von ihm koordinierten Päpstlichen Wirtschaftssekretariat etwa hätten Laien mittlerweile die gleichen Rechte und Verantwortlichkeiten wie Kardinäle und in seiner und anderen deutschen Diözesen gebe es konkrete Bestrebungen, verstärkt Frauen mit verantwortungsvollen Aufgaben in der kirchlichen Verwaltung zu betrauen. Dabei müssten kirchliche Entscheidungträger aber auf allen Ebenen dringend einen Mentalitätswechsel vollziehen, so Marx.
Simon Neubert
Quellen:
- http://americamagazine.org/content/all-things/cardinal-marx-we-must-think-beyond-capitalism
- http://americamagazine.org/issue/cardinal-marx-francis-synod-women-church-and-gay-relationships
- http://de.radiovaticana.va/news/2015/01/31/marx_ja_zu_frauen_und_zur_entklerikalisierung_der_macht/1120881
- http://www.muenchner-kirchennachrichten.de/meldung/article/kirchenreform-funktioniert-wie-treppenreinigung.html
- http://vaticaninsider.lastampa.it/en/world-news/detail/articolo/stati-uniti-united-states-estados-unidos-38703/