
Der Prophet Jona | © Gisela Wichern
„Wir sind das Volk!“ tönen die Anhänger von PEGIDA und LEGIDA bei ihren Demos. „Wirr ist das Volk“ lautet die Antwort der Gegendemonstranten. Und tatsächlich ist es gerade der Volksbegriff, der Verwirrung auslöst.
Die modernen Demokratien operieren mit dem Begriff des Staatsvolkes, bei welchem idealerweise die Souveränität liegt. Im Kontext der Demos soll der Ausruf „Wir sind das Volk“ wohl auf die vermeintliche Untergrabung dieser Volkssouveränität aufmerksam machen.
Doch der Volksbegriff ruft auch noch andere Assoziationen hervor. Im ethnischen Sinne wurde „das deutsche Volk“ im Nationalsozialismus mit der sogenannten „arischen Rasse“ gleichgesetzt und diente zur Legitimation ethnischer Säuberungen. Nicht zu übersehen ist dabei der Rekurs auf die religiöse Kategorie des auserwählten Volkes.
Die Erfahrungen der Unterdrückung und Kontrolle im Nationalsozialismus und ähnlichen Regimen begründen ein starkes Verlangen nach Freiheit und nichts rechtfertigt den barbarischen Überfall auf die Journalisten von Hebdo Charlie. Doch die allgemeine Empörung über den Vorfall läuft Gefahr, eine Antwort schuldig zu bleiben auf die Frage, wie demokratische Meinungsfreiheit letztlich zu verstehen ist. Sie darf – so meine Meinung – kein Freibrief sein für Verantwortungslosigkeit und mangelnden Respekt vor Lebensentwürfen, die nicht in unser westliches Denkschema passen.
Doch was hat dies alles mit dem Propheten Jona zu tun, von dessen Mission am heutigen Sonntag die Rede war? Das Buch Jona, das nur vier kurze Kapitel umfasst, schildert folgenden Sachverhalt: Gott hatte von der Schlechtigkeit der Bewohner von Ninive gehört und wollte diese durch die Androhung der Zerstörung ihrer Stadt zur Umkehr bewegen, um sie vor dem Verderben zu retten. So sandte er Jona nach Ninive, um die Bewohner der Stadt zu warnen. Jona aber war nicht einverstanden mit seiner Mission, ja er wurde zornig, denn er hätte Ninive gerne in Schutt und Asche liegen sehen. Die Logik: Die da in Ninive gehören nicht zu uns, zum Volk der Gerechten!
Doch es kommt noch schlimmer: Jona begreift das Handeln Gottes noch nicht einmal, als er selbst von den Seeleuten seines Fluchtschiffes als Sünder entlarvt, über Bord geworfen und nur durch Gottes Barmherzigkeit gerettet wird. Noch nicht einmal die Bekehrung der Bewohner von Ninive kann ihn überzeugen. Allen Tatsachen zum Trotz verharrt der PEGIDA-Vorläufer Jona in seinem Starrsinn. Die Erzählung schließt mit einer Frage Gottes an Jona, dessen Antwort ausbleibt – ein literarischer Kunstgriff, der es dem Leser überlässt, die passende Antwort zu geben.
Die Moral dieser Erzählung lautet: Wer die anderen aus Gottes Volk ausschließen will, der schließt sich am Ende selbst davon aus. Wer den anderen die Rettung verweigert, der schließt sich selbst von der Rettung aus. Der theologische Volksbegriff ist eine offener Volksbegriff: Niemand ist vom Heilswillen Gottes ausgeschlossen, das Volk Gottes ist ein Volk ohne Grenzen. Wer sich zu diesem Volk zählt, der tut gut daran, den anderen die Türen offen zu halten und sie in ihrer Andersartigkeit schätzen zu lernen, um sich nicht selbst den Zugang zum Heil zu verbauen.
Zweierlei können wir daraus lernen: a) Als Christen sollten wir auf der Hut sein, wenn wir von „Volk“, „Kirchenvolk“ und dergleichen sprechen. Die Geschichte zeigt, wie anfällig und empfänglich selbst die Theologie für die Legitimation elitärer Abgrenzungstendenzen ist. – b) Die Frage nach der Vereinbarkeit von PEGIDA/LEGIDA mit christlichen Wertvorstellungen dürfte mit den Ausführungen zur Jonaerzählung ebenfalls beantwortet sein.
Offen bleibt die Frage, weshalb derartige Bewegungen gerade in ostdeutschen Städten entstehen, obwohl diese eine ausgesprochen geringe Zuwanderung (von Muslimen) verzeichnen. Vielleicht liegt man ja gar nicht so falsch, in der Kampfparole „Wir sind das Volk“ auch den Wunsch zu lesen, im Westen endlich als gleichberechtigte Bürger wahrgenommen zu werden. Stimmt diese Interpretation, dann sollten wir „Wessis“ darüber nachdenken, wie ernst wir es mit unseren Lippenbekenntnissen zur Pluralität tatsächlich meinen.
Tobias Keßler