Franziskus und die vergötterten Mechanismen des Wirtschaftssystems

28. November 2013

Es liegt auf der Hand: Wenn der Papst in einem Dokument, von dem er sagt, das es eine „programmatische Bedeutung“ habe, sein Verständnis von Kirche und Mission zum Besten gibt, ist das Interesse auf Seiten des „Instituts für Weltkirche und Mission“ groß. Im Folgenden soll es indes weniger um den revolutionären Charakter seines apostolischen Schreibens „Evangelii gaudium“ für die Struktur der Kirche gehen („heilsame Dezentralisierung“) – jener müsste gesondert gewürdigt werden. Statt dessen möchte ich einen Blick auf einige Aspekte der Gesellschaftskritik Franziskus’ werfen, die er im zweiten Teil seines Lehrschreibens entfaltet, und die Gedanken des Papstes hier und dort weiterführen. Seine Gesellschaftskritik scheint zugleich ein wichtiger Ausgangspunkt für die „pastorale und missionarische Neuausrichtung“ der Kirche zu sein, die er vorschlägt.

 

Skyline Frankfurt

Quelle: www.piqs.de; Fotograph: ROLF VOLKER

 

Geschenkt sei Franziskus’ anfängliche Würdigung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts, der zum Wohl der Menschen beigetragen hat. Damit versucht die Katholische Kirche und Theologie seit jeher einen kulturpessimistischen Zungenschlag ihrer technologiekritischen Schriften zu vermeiden und den Verdacht des Rückwärtsgewandten auszuräumen, bevor er entsteht. Interessanter ist, dass Franziskus eine Kehrseite dieser Entwicklung ausmacht, die auf der gleichen Denkweise beruht, welche unserem Fortschritt und Wohlstand zugrunde liegt: Die Logik der „Qualität, Quantität, Schnelligkeit und Häufung“. Diese Logik der Quantifizierung und Meliorisierung (nach Vorgabe wirtschaftlicher Kriterien) zöge im doppelten Sinne „unheilvolle Konsequenzen“ nach sich. Ich möchte hierbei differenzierend ergänzen: Sofern sie das Denken und Handeln des Menschen in einer Absolutheit erfasst – was  nicht selten der Fall ist.

Nach innen führe diese Logik – so der Papst – zu einem wachsenden Leistungsdruck, auf den der Mensch im Sinne eines Ventils mit Pathologien, Angst und Verzweiflung reagiere. Als Indikator für diesen Mechanismus können die zunehmenden Erkrankungen an Burn-out und Depression in den reichen Ländern genannt werden. „Man muss kämpfen, um zu leben – und oft wenig würdevoll zu leben“, kritisiert Franziskus. In einer anthropologischen Lesart wird der Mensch, der gemäß dieser ökonomistischen Logik funktionieren soll, auf die Seite der Exzentrizität reduziert, während die unaufgebbare Positionalität vernachlässigt wird. Angesichts einer hedonistischen Engführung der Zielkoordinaten dieses „Woanders-Seinwollens“ muss der Mensch langfristig unglücklich werden. Eine weitere Folge sei die zunehmende Isolierung des Individuums, die Franziskus schon in der Einleitung des Schreibens anmahnt: „Die große Gefahr der Welt von heute mit ihrem vielfältigen und erdrückenden Konsumangebot ist eine individualistische Traurigkeit, die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht, aus der krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geisteshaltung. Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen […].“

Der letzte Satz dieses Zitats nimmt die „unheilvollen Konsequenzen“ nach außen in den Blick, die Franziskus mit markigen Worten beschreibt. Korrespondierend zum innerlichen Leistungsdruck („Ich muss besser sein …“) führe die Logik der Quantifizierung und Meliorisierung auf der interaktionellen Ebene zu einem aggressiven Konkurrenzkampf („… als der andere), der sich „nach dem Gesetz des Stärkeren ab[spielt], wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht“. Eine Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen sei die Folge, die „ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg“ sind. Aufgrund der betäubenden Kultur des Wohlstands würden zahlreiche Akteure unfähig, „Mitleid zu empfinden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der anderen, wir weinen nicht mehr angesichts des Dramas der anderen, noch sind wir daran interessiert, uns um sie zu kümmern“. Man muss diese Beschreibung auf einer basaleren Ebene weiterführen und konstatieren, dass eine Ignoranz und Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen nicht nur eine Kehrseite der genannten Logik der Quantifizierung und Meliorisierung ist, sondern im gewissen Umfang sogar systeminhärent ist. Franziskus schließt seinen Analysen ein unmissverständliches Statement an: „Ebenso wie das Gebot ‚du sollst nicht töten’ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein ‚Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen’ sagen.“

Den Beschreibungen Franziskus’ scheint eine starke unmittelbare Kontrasterfahrung vorausgegangen zu sein, die den motivationalen Anlass für seine Kritik an den Gesetzmäßigkeiten und Idealen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Rahmens darstellt. Reflektiert man auf gängige Wertungsmaßstäbe im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen, die sich schon in der Bezeichnung und Beschreibung des Anderen zeigen, wird bewusst, wie leicht eine Korrumpiertheit im Sinne der Logik der Quantifizierung und Meliorisierung vonstatten geht. Welcher Wertungsmaßstab liegt etwa der Aussage zugrunde, dass eine „Anschlussverwertung“ für Menschen gesucht wird? Oder wenn von „überzähligen“ Flüchtlingen die Rede ist? Wenn der Papst schreibt, der Mensch werde mittlerweile wie ein „Konsumgut“ betrachtet, das man „gebrauchen und dann wegwerfen“ könne, ist das eine Verhaltensweise, die sich schon im Kleinen äußert – und dabei nicht einmal mehr auffällt oder schmerzt.

Roman Beck