Was man von einer historischen Debatte lernen kann
Dies trifft insbesondere auf die emotional geführten Debatten zu Migration und die Verteidigung westlich-christlicher Werte zu, wie sie sich zuletzt prominent in der zugespitzten Frage widerspiegeln, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht.
Es ist gemessen am Maßstab der Geschichte der katholischen Kirche noch nicht allzu lange her, dass sich auch katholische ImmigrantInnen mit einer ähnlichen Frage konfrontiert sahen, nämlich am Höhepunkt antikatholischer Stimmungsmache in den USA im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Der Hintergrund dieser Debatte erinnert in Manchem an die gegenwärtige europäische Situation. Der historische Vergleich relativiert letztere jedoch auch.
Schätzungen zu Folge emigrierten von 1850 bis 1930 25 Millionen Europäer in die USA. Unter ihnen etwa fünf Millionen Deutsche, eine nahezu ebenso große Zahl aus Irland sowie Menschen aus Griechenland, Polen, Russland, Österreich-Ungarn und anderen Ländern. Alleine zwischen 1900 und 1915 wanderten drei Millionen Menschen aus Italien ein.
Die 1843 gegründete „Native American Party“ etwa betonte die Unvereinbarkeit des Katholizismus mit fundamentalen republikanischen Werten und der amerikanischen Kultur. Da Katholiken auf Grund ihrer Gehorsamspflicht gegenüber dem Papst nicht zur Teilnahme am republikanischen Leben fähig seien, forderten die Mitglieder der auch als „Know Nothing“ bekannten Bewegung den Ausschluss derselben von politischen Ämtern sowie den Stopp aller weiterer Einwanderung. Ebenfalls gegen die Katholiken gerichtet war die Forderung der Erhöhung der für die Einbürgerung nötigen Aufenthaltsdauer von fünf auf 25 Jahre sowie die Verknüpfung des Wahlrechts mit dem Bestehen eines Sprachtests.
Unter den „Knownothings“, die 1854 bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus fast ein Viertel der Wählerstimmen auf sich vereinen konnten, kursierten auch zahlreiche Verschwörungstheorien, darunter die Ansicht, die Einwanderung der Katholiken sei vom Papst gesteuert, um die amerikanische Demokratie zu schwächen oder die Planung eines neuen Vatikan in Cincinnati. Ängste vor dem Verlust der protestantischen Identität führten zu mehreren Ausschreitungen gegenüber katholischen Bevölkerungsgruppen, die auch Todesopfer forderten.
Die „Native American Party“ wurde 1860 aufgelöst, doch die Diskussionen der folgenden Jahrzehnte drehten sich weiterhin um die Loyalität der Katholiken gegenüber der amerikanischen Demokratie, die viele auf Grund der finanziellen und ideologischen Unterstützung aus dem Ausland in Frage gestellt sahen, befürchtete Parallelgesellschaften durch katholische Schulen und muttersprachliche Gemeinden sowie die drohende Marginalisierung der protestantischen Bevölkerung durch die höhere Geburtenrate unter den katholischen Immigrantinnen. Katholiken galten generell als autoritätshörig, intolerant, unaufgeklärt und rückständig. Speziell den italienischen und irischen Immigrantengruppen gegenüber waren Stereotype wie ein Hang zu Alkoholismus, Kriminalität und Gewalttätigkeit weit verbreitet.
Nach einem weiteren Höhepunkt in den 1920er-Jahren verloren die antikatholischen Ressentiments ab den 50er-Jahren an Bedeutung. Die als gemeinsame Bedrohung empfundene Herausforderung durch den atheistischen Kommunismus veranlasste politische Führungsgestalten wie Präsident Eisenhower dazu, statt der konfessionellen Identität zunehmend die gemeinsamen „jüdisch-christlichen Werte“ als identitätsstiftendes Merkmal der US-amerikanischen Kultur zu betonen.
Heute ist es eben dieses Narrativ vom „jüdisch-christlichen Abendland“, das in den westlichen Ländern zur Abgrenzung von Zuwanderern aus muslimischen Ländern in Stellung gebracht wird.
Die Erfahrungen unterschiedlicher geschichtlicher Kontexte lassen sich nie direkt aufeinander übertragen. Sie bleiben different. Aber die historische Übung des Perspektivenwechsels vermag bisweilen dazu zu verhelfen, einen klareren Blick für die eigenen Stereotype und uneingestandenen Verlustängste zu entwickeln, sowie dazu, mit mehr Gelassenheit und Differenziertheit auf die „Freude und Hoffnung, die Trauer und Ängste“ (GS 1) der Zuwanderer auch aus anderen religiösen Traditionen zu blicken.
Für die katholische Kirche besteht eine zentrale Herausforderung heute wohl darin, ausgehend von ihren eigenen Diskriminierungserfahrungen einen Beitrag zur Entwicklung neuer gesellschaftlicher Narrative zu leisten, die nicht exkludierend, sondern verbindend wirken können. Ihr Auftrag, „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (GS 42) zu sein, scheint ihr diese Aufgabe zuzumuten.
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Sebasian Pittl
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David Harry Bennet, The Party of Fear. From Nativist Movements to the New Right in American History, Chapel Hill 1988.
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Elizabeth Fenton, Religious Liberties. Anti-Catholicism and Liberal Democracy in Nineteenth-Century US-Literature and Culture, New York 2011.