Seit einigen Wochen bereitet die Corona-Krise der gesamten Weltbevölkerung ernsthafte Sorgen. Regierungen ergreifen unterschiedliche Maßnahmen, Unternehmen entwickeln vielfältige Strategien, Familien und einzelne Menschen organisieren sich völlig neu.
Auf einer zweiten Ebene stellt sich für sie die Frage, was sie innerhalb ihrer nun erheblich eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten tun kann, um ihre Solidarität kundzutun und der Pandemie überhaupt entgegenzuwirken. Auch in dieser Hinsicht berichten die Medien von einer Vielzahl beachtlicher, anerkennenswerter, konkreter Taten und Initiativen.
So hat der Bischof von der italienischen Stadt Bergamo – also einem von der Epidemie sehr schwer betroffenem Ort – seine Priester gebeten auf drei Monatsgehälter zu verzichten, um einen Solidaritätsfonds einzurichten, der vor allem Familien, Arbeitnehmern, Bildungs- und Hilfseinrichtungen zugutekommen soll. In vielen Ländern, wo der Dienst der Telefonseelsorge nicht bekannt war, wird er nun für sich allein, isoliert oder bedrückt fühlende Menschen angeboten. Vielerorts auf der Welt stellen Caritasverbände den Diözesen Gelder zur Verfügung, um Desinfektionsmittel, Gesichtsmasken, Lebensmittel usw. für finanziell betroffene Menschen erwerben zu können. Auch Ordensleute und Freiwillige legen Zeugnis von ihrem Glauben ab, indem sie trotz der aktuellen Umstände Obdachlosen und Armen ihren Dienst zwar „geschützter“, aber weiterhin erweisen. Diese aktuellen Beispiele unter einer Vielzahl von anderen veranschaulicht, welche Kraft der Glaube haben kann und welch entscheidende, gesellschaftsrelevante Rolle religiöse Gemeinschaften gerade in Krisenzeiten einnehmen können.
Das Land Brasilien ist ein gutes Beispiel dafür. Seitdem die Maßnahmen zur Vermeidung von Infektionen in Brasilien in Kraft gesetzt wurden, haben vor allem einige große Pfingstkirchen (Megachurchs) Einspruch in verschiedenen Instanzen der brasilianischen Justiz erhoben. Dabei drehte es sich vor allem und den Begriff der „lebensnotwendigen Dienste und Aktivitäten“, der ja den Betrieb von Apotheken, Supermärkte usw. rechtfertigt. Die Argumentation dieser Pastoren lautete hingegen: Sind Supermärkte etwa lebensnotwendiger als Kirchen? Sind Menschen in Supermärkten geschützter als in Kirchen? Auch wenn diese Kirchen Desinfektionsmittel an den Eingängen bereitstellten, soll dabei bedacht werden, dass zu einem solchen Gottesdienst nicht 60 oder 100 Menschen kommen, sondern Tausende. Obwohl die Verordnung binnen einer Woche mehrmals geändert wurde, gewannen diese Kirchen den Rechtsstreit, sodass religiöse Aktivitäten seit letzter Woche wieder zugelassen werden.
Ganz anders positionierte sich zu dieser Frage in Brasilien die katholische Kirche. Alle katholischen Gottesdienste waren ohnehin abgesagt worden und selbst nach der gerichtlichen Entscheidung, der zufolge Gottesdienste wieder öffentlich abgehalten werden dürften, machte die katholische Kirche keinen Gebrauch von diesem Recht. Zudem veröffentlichte die brasilianische Bischofskonferenz am 27.03. zusammen mit anderen wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen eine gemeinsame Erklärung, in der sie das Verhalten des brasilianischen Präsidenten sowie die derzeitige Desinformationskampagne bezüglich der Corona-Krise verurteilt. Es gilt zu beachten, dass auch einige eher „klassische“ Pfingstkirchen sowie andere christliche Denominationen in Brasilien sich dieser Ansicht anschlossen.
Auch deren Aufforderung zu Gebetsketten, Fasten und vor allem zu Opfern ist sehr diskutiert worden. Der Grundgedanke, der dahinterstehet, ist, dass diese von Satan geschickte Plage nur durch Gebet, Fasten und Aufopferung überwunden werden kann. Die Gläubigen sollen in dieser Zeit, in der sie ja ohnehin finanziell angeschlagen sind, nicht weniger auf dem Altar opfern (d. h. spenden), sondern noch mehr, da Gott diesen Preis von uns verlange, um diesen Fluch zu bannen. Besonders diejenigen, die derzeit arbeitslos sind und kein Geld haben, könnten ihre Spende über die Kreditkarte auf Raten verteilen und dennoch opfern.
Diese Pastoren versprechen ihren Kirchenmitgliedern, dass sie keinesfalls vom Coronavirus infiziert werden, sofern sie vertrauensvoll daran glauben. Sie verachten zudem die Maßnahmen des Gesundheitsministeriums, reden meist Erkenntnisse der Wissenschaft klein, erhalten ihre Seelsorge-Angebote weiterhin aufrecht und ermutigen sogar die Menschen, auf Gott zu vertrauen und ihr normales Leben bedenkenlos weiterzuführen. Der Glaube an die Macht Jesu Christi sei die entscheidende Waffe gegen jede Krankheit und wer den habe, sei immun gegen das Coronavirus und andere Krankheiten.
Widersprüchlicher könnten die Beiträge von Kirchen und Religionen in einer solchen Krise nicht sein. Auch das gehört zur Ambivalenz von Religion, gerade im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Welt und Gesellschaft. Es zeigt außerdem, welch (magische) Kraft ihnen noch innewohnt, auch unter dem Vorzeichen der Säkularisierung.
- ehem. wissenschaftlicher Mitarbeiter – Politischer Pentekostalismus