Am 06. Mai 2016 bekam Papst Franziskus den internationalen Karlspreis zu Aachen für die Einheit Europas verliehen. Zum Festakt, der im Vatikan stattfand, hielt Papst Franziskus eine Ansprache, die medial große Aufmerksamkeit erfuhr und erfährt. Vor allem die Passagen über seine „Europaträume“ scheinen vielen Menschen direkt ins Herz zu gehen und entwerfen eine aufrüttelnde politische Vision Europas.
Liest man aber die päpstliche Ansprache aus theologischer Perspektive genauer, dann fällt auf, dass Papst Franziskus insgesamt 5mal – und somit am häufigsten – aus seinem apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (EG) zitiert. Dieser Befund ist erstaunlich, da Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si‘ selbst schreibt, dass die Adressaten von EG die Mitglieder der Kirche sind. (LS 3) Wieso zitiert also Papst Franziskus so häufig aus seinem Schreiben an die Kirche, wenn er sich doch in einer politischen Rede an die europäische Öffentlichkeit wendet?
Eine Analyse der Rede gibt hierzu zwei Antworten:
- Die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute – so der Untertitel von EG – hat für Franziskus stets auch eine politische Dimension. Man denke hierbei nur an die wirtschaftskritischen Passagen von EG oder die Umweltenzyklika Laudato si‘. Und so ist es ihm ein Anliegen, dass sich die europäischen Kirche mit ihrem spezifischen Auftrag aktiv an der Einheit und Weiterentwicklung Europas beteiligen: „Am Wiederaufblühen eines zwar müden, aber immer noch an Energien und Kapazitäten reichen Europas kann und soll die Kirche mitwirken. Ihre Aufgabe fällt mit ihrer Mission zusammen, der Verkündigung des Evangeliums. Diese zeigt sich heute mehr denn je vor allem dahin, dass wir dem Menschen mit seinen Verletzungen entgegenkommen, indem wir ihm die starke und zugleich schlichte Gegenwart Christi bringen, seine tröstende und ermutigende Barmherzigkeit. […] Nur eine Kirche, die reich an Zeugen ist, vermag von neuem das reine Wasser des Evangeliums auf die Wurzeln Europas zu geben. Dabei ist der Weg der Christen auf die volle Gemeinschaft hin ein großes Zeichen der Zeit, aber auch ein dringendes Erfordernis, um dem Ruf des Herrn zu entsprechen, dass alle eins sein sollen […].“
- Darüberhinaus verdeutlicht die Ansprache, dass aus päpstlicher Sicht, der zukünftige Weg Europas auf den gleichen Prinzipien beruhen sollte, die auch seiner Vision von der Kirche entsprechen. Denn wenn die Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil sich in der Welt verortet, dann ist der Weg der Kirche durch die Zeiten, nicht vom Weg der Zivilgesellschaften zu trennen; dann sollten beide das gleiche Ziel verfolgen: Ein Leben in Würde für alle Menschen (Ansprache des Papstes zur Verleihung des Karlspreises). In seiner Ansprache macht sich Franziskus nun für folgende Prinzipien stark:
Das Prinzip der Inklusion bzw. Integration. Die Zukunft Europas hängt für Franziskus davon ab, ob es „Inklusions- und Transformationsprozesse hervorzubringen“ vermag, die alle sozialen Handlungsträger mit dem Ziel vereint, gesellschaftliche Exklusion von Menschen und Völkern zu bekämpfen. Das Prinzip der Inklusion bzw. Integration finden sich dabei nicht nur als grundlegende Prinzipien der kirchlichen Lehre und Praxis in Evangelii gaudium, sondern auch in jüngsten nachsynodalen apostolischen Schreiben Amoris laetitia.
Das Prinzip der Solidarität. Aus dem Anspruch der Inklusion/Integration erwächst das Prinzip der Solidarität, dass nach Franziskus „als Schaffung von Möglichkeiten zu sehen ist, damit alle Bewohner unserer – und viele anderer – Städte ihr Leben in Würde entfalten können.“ Der Begriff der Solidarität ist ebenso eine Schlüsselwort in EG. Es kommt in seinen verschiedenen Formen insgesamt 23mal in diesem apostolischen Schreiben vor und wird der Kirche, der Gesellschaft und der Wirtschaft als zentrales Element menschlicher Gemeinschaften vorgestellt.
Das Prinzip der multikulturellen Identität. Das Europa der Zukunft dürfe sich nicht auf „ideologische Kolonialisierungen“ einlassen, sondern müsse „Züge verschiedener Kulturen“ tragen. Diese Form der Interkulturalität kennzeichne nämlich die Größe Europas. Entsprechend darf es auch der Kirche niemals um einen kulturellen Kolonialismus gehen: „Dieses Volk Gottes nimmt in den Völkern der Erde Gestalt an, und jedes dieser Völker besitzt seine eigene Kultur. […] Jedes Volk entwickelt in seinem geschichtlichen Werdegang die eigene Kultur in legitimer Autonomie.“ (EG 115)
Das Prinzip des Dialogs. Ein letztes Prinzip mag die Dialogfähigkeit sein, die Franziskus von allen Instanzen Europas einfordert. Denn Dialogfähigkeit ist das zentrale Instrument der europäischen Friedenssicherung. Und so appelliert Franziskus: „Heute ist es dringend nötig, ,Koalitionen‘ schaffen zu können, die nicht mehr nur militärisch oder wirtschaftlich, sondern kulturell, erzieherisch, philosophisch und religiös sind. Koalitionen, die herausstellen, dass es bei vielen Auseinandersetzungen oft um die Macht wirtschaftlicher Gruppen geht. Es braucht Koalitionen, die fähig sind, das Volk vor der Benutzung durch unlautere Ziele zu verteidigen. Rüsten wir unsere Leute mit der Kultur des Dialogs und der Begegnung aus.“ Selbstverständlich hat der Dialog auch für den Auftrag der Kirche in der Welt große Bedeutung. In EG beschäftigen sich allein 20 Abschnitte mit den verschiedenen Formen des Dialogs, die elementar für den kirchlichen Beitrag zum Frieden in der Welt sind.
Die Rede von Papst Franziskus ist somit nicht nur eine politische Rede über die Zukunft Europas, sondern auch ein Zeugnis für das Wirken der Kirche in der Welt und der Verflechtung der Kirche mit der Welt, die zu einem gemeinsamen Weg auffordert.
Markus Patenge