Jahrestagung 2017
Die Auseinandersetzung mit Geschichte, Struktur, Spätfolgen und Neuformierungen von Kolonialismus stellt in weltkirchlicher und missionswissenschaftlicher Hinsicht eine zentrale Herausforderung dar. 85% des Globus haben eine koloniale Vergangenheit. Die Wunden dieser Geschichte wirken, wie sich in der vor Kurzem eingereichten Klage der Herero und Nama gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Verbrechen während der deutschen Kolonialzeit zeigt, bis heute nach. „Landgrabbing“, der Raubbau von Ressourcen durch internationale Konzerne, aufgezwungene Freihandelsverträge und die ungleichen Auswirkungen des vor allem von den westlichen Ländern verursachten Klimawandels stellen darüber hinaus Formen eines Neokolonialismus dar, der das Zusammenleben von Menschen und Kulturen in der globalen Moderne massiv prägt.
Die Tagung des IWM stellte die erste Konferenz innerhalb der deutschsprachigen katholischen Theologie dar, die diesen Forschungsansatz zum Gegenstand einer konstruktiven und kritischen Auseinandersetzung machte, wobei der Fokus über die Auseinandersetzung mit den „postcolonial studies“ hinaus bewusst auch auf andere Formen der Analyse und des Umgangs mit Kolonialismus und Neokolonialismus geweitet werden sollte.
Das Programm der Tagung bildete den Versuch ab, der Vielschichtigkeit der Kontexte und theoretischen Bezugspunkte gerecht zu werden, die die theologische Auseinandersetzung mit post- und neokolonialen Situationen heute prägen. Vertreterinnen und Vertreter einer explizit „postkolonialen“ Theologie wurden dabei in ein Gespräch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gebracht, die zwar ebenfalls auf die Herausforderungen post- und neokolonialer Kontexte reflektieren, dies jedoch in Bezug auf andere (befreiungstheologisch, interkulturell oder indigen inspirierte) Ansätze tun. Dadurch sollten Engführungen in den jeweiligen Ansätzen aufgebrochen werden und gegen die Gefahr geschichtlicher Amnesie die lange und breite Tradition (bisweilen auch theoretisch äußerst anspruchsvoller) antikolonialer Widerstandsbewegungen in den unterschiedlichen Kontexten in den Blick gebracht werden. Die Integration unterschiedlicher disziplinärer und konfessioneller Blickwinkel sowie die Verschränkung von Perspektiven unterschiedlicher geografischer Kontexte machten die Tagung zu einer gleichermaßen interdisziplinären, ökumenischen und interkulturellen Tagung.
Den Beginn der Konferenz bildete mit Leela Gandhi (Brown University, USA) eine der wohl profiliertesten Vertreterinnen gegenwärtiger „postcolonial studies“. Gandhi führte in einem anspruchsvollen „kritischen Manifest“ an sieben entscheidende Wegkreuzungen gegenwärtiger postkolonialer Theoriebildung. Die Stichwörter „Assemblage“, „Unterdrückung“, „Theorie“, „Demokratie“, „Verzicht“, „Ethik“ und „Ratschlag für Könige“ dienten dabei als Anzeige von Problemkonstellationen, an die Gandhi jeweils spezifische Vorschläge für die Bestimmung des heterogenen Diskursensembles der „postcolonial studies“ knüpfte. An entscheidenden Stellen (z. B. bei der Konversion des indischen Dalitführers Ambedkar) wurde dabei die Bedeutung sichtbar, die religiösen und spirituellen Motiven für die Entwicklung einer postkolonialen Ethik zukommen kann.
Die renommierte afrikanische Bibelforscherin Musa Dube (Botswana University, Botswana) erkundete in ihrem Abendvortrag die Wege postkolonialer Mission in Bezug auf den afrikanischen Kontext. Gegen verharmlosende Deutungen, die einen Zusammenhang insbesondere zwischen dem Wirken protestantischer Missionare und der erfolgreichen Etablierung demokratischer Strukturen in verschiedenen afrikanischen Ländern herzustellen versuchen (Robert Woodberry), verwies Dube auf die bleibende Ambivalenz des missionarischen Erbes in Afrika. Am Beispiel der „Rhodes must fall“-Kampagne in Südafrika 2014 für die Entfernung von Denkmälern, die an einen der wichtigsten Akteure des britischen Kolonialismus, den Unternehmer Cecil John Rhodes, erinnern, veranschaulichte sie, wie das Erbe des Kolonialismus nach wie vor die afrikanischen Gesellschaften heimsucht und destabilisiert. Dube problematisierte darüber hinaus die Rolle vieler neopentekostaler Kirchen im gegenwärtigen Kontext. Diese bildeten mit ihrem „prosperity gospel“ vielfach den ideologischen Rückhalt für die Etablierung eines neoliberalen Neokolonialismus, ohne dabei der Kolonialismuskritik ausgesetzt zu sein, mit der sich die traditionellen christlichen Kirchen auseinanderzusetzen hätten.
Marion Grau (Norwegian School of Theology, Norwegen), eine Pionierin auf dem Gebiet „postkolonialer Missionswissenschaft“, skizzierte in ihrem Beitrag eindrücklich die gegenwärtige Herausforderungssituation einer postkolonialen Missionswissenschaft zwischen ökologischer Krise, Formen des neoliberalen Neokolonialismus und dem Erstarken ethnonationalistischer Bewegungen in verschiedenen Kontexten und Kontinenten. Ihre Überlegungen rund um die Frage einer postkolonialen theologischen Hermeneutik veranschaulichten die Ambivalenz von Kommunikations- und Übersetzungsprozessen zwischen Kolonisatoren, Missionaren und indigener Bevölkerung und führten schließlich zur Frage nach den tieferliegenden Ursachen des weißen, vorwiegend maskulinen (Neo-)Kolonialismus der Gegenwart. Die Aufarbeitung der kolonialen Verletzungen im Verlauf der Christianisierung der europäischen Völker sowie die Schaffung neuer Identifikationsmöglichkeiten für die von ihrem globalen Bedeutungsverlust verunsicherte „weiße Männlichkeit“ wurden dabei als zwei meist übersehene, nichtsdestoweniger jedoch entscheidende Aufgaben einer postkolonialen Missionswissenschaft deutlich.
Saskia Wendel (Universität Köln) veranschaulichte die theologische Fruchtbarkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie auf dem Feld der Religionstheologie. Obwohl Wendel die Bedeutung postkolonialer Theorie insbesondere zur Aufdeckung des latenten Eurozentrismus, der sich selbst innerhalb der kritischen Stränge gegenwärtiger westlicher Theologie wie etwa der feministischen oder der politischen Theologie zeige, unterstrich, markierte sie mit Blick auf die bekannte postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak auch wesentliche Defizite hinsichtlich des Begründungsprogramms postkolonialer Theorie. Auf der Basis der Anerkennung einer freien, handlungs- und sprachmächtigen Subjektivität, die den Diskursen, in die sie hinein verwoben ist, nicht einfach schicksalhaft ausgeliefert ist, und des kategorischen Imperativs Immanuel Kants ließen sich die Anliegen postkolonialer Theorie jedoch gewinnbringend für den religionstheologischen Diskurs fruchtbar machen. Wendel warb in diesem Sinn religionstheologisch für einen „depotenzierten Inklusivismus“, in dem der Universalitätsanspruch religiöser Überzeugungen von Wahrheitsansprüchen klar zu unterscheiden sei und die Anerkennung einer prinzipiellen Gleichwertigkeit der handelnden und glaubenden Subjekte als Basis für eine nicht reduzierbare Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe ernst genommen werde.
Im letzten Vortrag der Tagung ging Norbert Hintersteiner (Universität Münster) der Frage nach dem Verhältnis von „postcolonial studies“ und Missionstheologie nach. Der Vortrag analysierte, inwiefern die verschiedenen Modelle von christlicher Mission, die in den letzten Jahren als Alternativen bzw. als Fortführung zur klassischen „Missio ad gentes“ entwickelt worden waren, den Anfragen eines postkolonial sensibilisierten Denkens standhalten, um zuletzt für ein Verständnis von Mission als „Missio ex marginibus“ und als „Missio ad vulnera“ zu werben. Beide Motiven, sowohl die Option für die marginalisierten Orte, Menschen und Kulturen als auch die Sensibilität für die menschliche Verletzbarkeit, stellen zentrale Themen der postkolonialen Studien wie der christlichen Mission dar. Auf der Grundlage dieser Schnittfläche böten sich fruchtbare Möglichkeiten für ein interdisziplinäres Gespräch, wechselseitige Inspiration und Kritik.
Als Abschluss der Tagung reflektierten Raúl Fornet-Betancourt, Marion Grau, Claudia Jahnel und Felix Wilfred in einer Podiumsdiskussion über die Vorträge der Tagung und versuchten die unterschiedlichen Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen. Im Zentrum stand dabei die Frage nach den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen, vor denen sich eine post- bzw. dekolonial sensibilisierte Kirche und Theologie angesichts der globalisierten Welt von heute gestellt sehen. Die Heterogenität der unterschiedlichen Zugänge, Perspektiven und Erfahrungshintergründe wurde dabei erneut deutlich. Gleichzeitig zeichneten sich jedoch auch gemeinsame Anliegen ab. Konsens herrschte darüber, dass die Auseinandersetzung mit historischen und gegenwärtigen Formen von Kolonialismus für eine Theologie, die angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart – man denke nur an die Themen Migration und Flucht, die Zerstörung des globalen Ökosystems oder Terrorismus und Fundamentalismus – sprachfähig und glaubwürdig bleiben will heute von größerer Bedeutung ist als je zuvor.
Die Reichhaltigkeit der unterschiedlichen Perspektiven, die große Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die Lebendigkeit der Diskussionen und das äußerst positive Echo lassen es als lohnenswert erscheinen, das Thema in Zukunft weiter zu vertiefen. Die Konferenz hat auf alle Fälle einen Anstoß zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Thema „Postkolonialismus“ innerhalb der deutschsprachigen katholischen Theologie und Kirche gegeben, dem hoffentlich weitere Veranstaltungen und Forschungsprojekte folgen werden.
Die Vorträge der Konferenz werden voraussichtlich im Frühjahr 2017 in einem Konferenzband in der Reihe „Weltkirche und Mission“ im Verlag Friedrich Pustet publiziert werden.
Interviews mit den Referentinnen und Referenten sind in wenigen Wochen auf dem Video-Channel der IWM-Homepage zugänglich.
Weitere Informationen zur Tagung (Programm, Referentinnen und Referenten, Konzept) finden Sie auf der Tagungshomepage.
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Sebastian Pittl