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Katholische Kirche und HIV/AIDS in Afrika
In einem Beitrag aus dem Jahr 1966 für das Handbuch der Pastoraltheologie hat sich Karl Rahner mit der Tatsache beschäftigt, dass sich in vielen ethischen Fragestellungen ein Spannungsverhältnis zwischen theoretischer und realer Moral beobachten lässt. Er versteht darunter „die Differenz und die Unebenheiten im Verhältnis der gelebten Moral und der verkündeten theoretischen Moralpastoral“ . Diesen Graben zwischen gelebter Praxis und gelehrter Theorie hält er für eine der zentralen Herausforderungen – nicht nur für den moraltheologischen Diskurs, sondern gerade auch für die konkrete Seelsorge.

 

Besonders beunruhigt Rahner, dass sich dieser Graben nicht nur aufgrund eines Ungehorsams gegenüber der kirchlichen Lehre auftut, sondern dass es vielen Gläubigen einfach nicht möglich ist, die kirchlich verkündeten Moralvorstellungen in ihrem Leben umzusetzen: „Es kann durchaus der Fall sein, daß ein Mensch faktisch die formale Autorität der Kirche in Sittensachen anerkennt, einen bestimmten Spruch der Kirche hört und begrifflich versteht, ihn aber doch existentiell nicht zu ‚realisieren’ vermag.“ Für Rahner ergeben sich solche Dilemmasituationen beispielsweise dann, wenn Menschen zu stark unter dem Druck kollektiver Leitbilder oder wirtschaftlicher Belastungen stehen.

Beschäftigt man sich mit der HIV/Aids-Problematik, so stößt man ziemlich schnell auf diesen Graben zwischen gelehrter und lebbarer Moral. Ein besonders einschlägiges Beispiel ist das Phänomen diskordanter Paare. Hierbei handelt es sich um Paare, in denen ein Partner HIV-positiv ist, der andere HIV-negativ ist. Im subsaharischen Afrika ist die Infektion mit dem HI-Virus in diskordanten Partnerschaften – oftmals Ehen – einer der Hauptübertragungswege. Sollen die Partner und Eheleute nicht auf ihr Sexualleben verzichten, drängt sich die Frage der Prävention einer solchen Infektion auf. Hierzu zählt sicherlich eine gute ärztliche Versorgung – vor allem mit antiretroviralen Medikamenten –, auch die Lebensmittelversorgung ist ein wichtiger Faktor, schließlich wird man sich aber auch mit der Kondomfrage als einem der effektivsten Wege der Prävention befassen müssen.
In der Studie „Lehren aus den Antworten der katholischen Kirche auf HIV und AIDS in Afrika“ werden die Ergebnisse einer breit angelegten, internationalen Feldstudie zusammengefasst, die afrikanische und deutsche Theologen und Gesundheitsexperten zwischen 2010 und 2013 im Auftrag der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz in Äthiopien, Sambia und Malawi durchgeführt haben.
Bei der vom Institut für Weltkirche und Mission mit durchgeführten Studie zur HIV/Aids-Problematik im subsaharischen Afrika stießen wir immer wieder auf genau diese Dilemmasituationen. Angesprochen auf die Frage nach diskordanten Paaren sagte uns zum Beispiel ein Interviewpartner in einem Krankenhaus in Malawi: „Ich folge meinem Gewissen, das durch meinen Glauben und meine Arbeit bestimmt ist. Ich folge nicht den Regeln der Kirche oder meines Arbeitgebers.“ Auch andere Interviewpartner antworteten, dass letztlich das Gewissen die ausschlaggebende Instanz in solchen moralischen Konfliktsituationen ist. Eine Frau aus einer Selbsthilfegruppe in Äthiopien sagte allerdings auch, dass die Gewissenskonflikte für sie eine große Last seien: „Ich kenne die Lehre der Kirche, aber mir ist es nicht möglich, sie zu leben. Ich weiß zwar, dass ich letztlich meinem Gewissen folgen muss, aber trotzdem quält es mich, dass ich der kirchlichen Lehre nicht folgen kann.“
Die Frage der diskordanten Paare ist demnach ein Paradebeispiel für die von Rahner in die Diskussion gebrachte Differenz zwischen theoretischer und praktischer Moral. Solche konkreten Fälle, die uns in der Studie immer wieder begegneten, bringen zum Ausdruck, wie dringlich es ist, den Graben zwischen gelebter und gelehrter Moral zu überbrücken. Dies meint nicht, dass sich die Kirche jedem gesellschaftlichen Leitbild anpassen muss, aber sie ist dazu aufgefordert, in ihrer Lehre noch sensibler dafür zu sein, dass – wie Rahner es formuliert – „nicht in jedem Augenblick alles an sich Wünschenswerte und Seinsollende […] möglich“ ist. Einige afrikanische Bischofskonferenzen haben dies in Bezug auf die Frage diskordanter Paare bereits beherzigt, indem sie ihren Gläubigen dazu geraten haben, sich in solchen Fällen vor der Infektion entsprechend zu schützen.

 

Die im Rahmen der HIV/Aids-Studie durchgeführten Interviews haben gezeigt, dass viele afrikanische Katholikinnen und Katholiken gerade bei Fragen der Sexualität und Ehe der Kirche kaum noch Gehör schenken – ein Phänomen, das uns in Europa schon lange vertraut ist. Dies hängt vielfach damit zusammen, dass sich ihre Realität nicht mehr mit den kirchlichen Moralvorstellungen in Einklang bringen lässt. Was Rahner also für den europäischen Kontext diagnostiziert hat, trifft auch für Afrika zu: Will sich die Kirche in ethischen Fragen mehr Gehör verschaffen, muss sie weiter an einer Verringerung der Differenz zwischen theoretischer und praktischer Moral arbeiten.

 

Die aus dem Projekt hervorgegangene Publikation können Sie hier bestellen.

  • ehem. wissenschaftlicher Mitarbeiter - Mission und Gesundheit
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