Besonders beunruhigt Rahner, dass sich dieser Graben nicht nur aufgrund eines Ungehorsams gegenüber der kirchlichen Lehre auftut, sondern dass es vielen Gläubigen einfach nicht möglich ist, die kirchlich verkündeten Moralvorstellungen in ihrem Leben umzusetzen: „Es kann durchaus der Fall sein, daß ein Mensch faktisch die formale Autorität der Kirche in Sittensachen anerkennt, einen bestimmten Spruch der Kirche hört und begrifflich versteht, ihn aber doch existentiell nicht zu ‚realisieren’ vermag.“ Für Rahner ergeben sich solche Dilemmasituationen beispielsweise dann, wenn Menschen zu stark unter dem Druck kollektiver Leitbilder oder wirtschaftlicher Belastungen stehen.
Die im Rahmen der HIV/Aids-Studie durchgeführten Interviews haben gezeigt, dass viele afrikanische Katholikinnen und Katholiken gerade bei Fragen der Sexualität und Ehe der Kirche kaum noch Gehör schenken – ein Phänomen, das uns in Europa schon lange vertraut ist. Dies hängt vielfach damit zusammen, dass sich ihre Realität nicht mehr mit den kirchlichen Moralvorstellungen in Einklang bringen lässt. Was Rahner also für den europäischen Kontext diagnostiziert hat, trifft auch für Afrika zu: Will sich die Kirche in ethischen Fragen mehr Gehör verschaffen, muss sie weiter an einer Verringerung der Differenz zwischen theoretischer und praktischer Moral arbeiten.
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- ehem. wissenschaftlicher Mitarbeiter - Mission und Gesundheit